Mittwoch, 21. Oktober 2015

Abanak, der junge Inuit

Mein Name ist Abanak Nanuk. Ich lebe im Stamm der Inuit, man sagt auch, dass wir Eskimos sind. Doch das hören wir nicht so gerne. Abanak heisse ich nach meinem Grossvater und vor sechs Monaten bekam ich auch noch den Namen Nanuk, nach meinem vor einen halben Jahr gestorbenen Onkel. Bei uns Inuit ist das mit den Namen etwas Besonderes. Oft lange vor unserer Geburt erhalten wir bereits einen Namen. Es ist der Name eines Verstorbenen aus unserer Familie. Das ist für uns ganz wichtig, denn wenn ein Name ohne einen Körper zurück bleibt, dann ist das ein schlechtes Omen für unsere Familie. Mittlerweile trage ich auch noch den Namen meines Onkels und damit bin ich mit noch viel mehr Menschen verwandt. Ich habe zwei Mütter, viele Omas und Opas. Nach dem Tod meines Onkels, hat mein Vater dessen Witwe zur Zweitfrau gemacht und nun habe ich noch eine zusätzliche Mama und Schwester. Auch habe ich noch einen kleinen Bruder. Wir sind eine grosse Familie, zu der weit über dreissig Personen gehören. Wir wohnen mit mehreren Familien im Winterlager.

Wir leben im Landesinneren von Grönland, zu einer Zeit, in der es noch kein Radio, Fernseher oder gar Sozialhilfe gab. Wir müssen alles was wir für unser Leben brauchen, selber organisieren. Das Leben ist hart in den eisigen Weiten Grönlands. Wir leben vom Fischfang, dem Jagen von Eisbären und Karibus, als besondere Leckerbissen sammeln die Frauen im Sommer auch Beeren und Früchte.

Nun will ich Euch etwas von meinem Leben erzählen. Ich bin ein Junge, an der Schwelle zum Mann und morgen ist es das erste Mal, dass mich mein Vater  mit zur Jagd mitnimmt. Darauf freue ich mich schon riesig und habe deshalb die letzten Wochen ganz fleissig geübt, mit Pfeil und Bogen zu schiessen. Mein Vater hat mich gestern gelobt und meinte, ich wäre jetzt schon ein guter Bogenschütze und werde sicher auch so ein guter Jäger wie mein Grossvater. Ihr müsst wissen, bei uns sagt man, dass man die Eigenschaften erhält dessen Namen man trägt. Mein Grossvater war ein sehr guter Jäger und mein Onkel war ein sehr kluger und besonnener Mann. Ergo müsste ich ein kluger und besonnener Jäger werden. Da bin ich mal gespannt.... Wir leben zur Zeit in unserem Winterquartier in verschiedenen Inuithäusern, den Qarmag. Durch einen tiefergelegenen Eingang kommen wir in unserer Behausung. Im hinteren Bereich ist der Schlafbereich und im vorderen der Wohn- und Kochbereich. Der Quarmag ist es mollig war und er ist dick mit Fellen ausgelegt. Ich muss nun schnell ins Bett, damit ich morgen ausgeschlafen bin. Schnell schlüpfe ich zwischen Mama und Papa unter die Felle. ....

Gestern muss ich ganz schnell eingeschlafen sein. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass Mama in der Nacht noch einmal die Quillig, unsere Őllampe, die auch unsere Heizung ist, nachfüllte. Heute ist es ein ganz klarer kalter Wintertag, die Sonne scheint und unsere Schlittenhunde scheinen zu ahnen, dass es auf die Jagd geht. Nach dem Frühstück aus rohem Fleisch und einem heissen Tee, treffen wir uns Jäger :-) (hört sich gut an: ich und ein Jäger :-)) auf dem grossen Platz zwischen unseren Qarmags. Wir setzen uns im Kreis und in der Mitte steht unser Schamahne. Er  schlägt die Trommeln und stimmt in einen Kehlgesang ein und bittet so Sila, die Göttin der Tiere, Menschen und Berge, uns freundlich gesinnt zu sein und uns eine gute Jagd zu bescheren. Als er fertig ist, spannen wir die Schlittenhunde in die Schlitten, packen unseren Proviant und unsere Jagdutensilien ein. Wir sind in dicke lange Jacken gehüllt, die aus zwei Lagen Fell bestehen. Bei der inneren Lage weist das Fell nach innen und bei der äusseren nach aussen. An die Innenseite ist noch eine Kapuze genäht. Bei den Müttern hat das Innenfell noch eine spezielle Tasche, in der sie die Babys und Kleinkinder tragen. An den Händen tragen wir Fellhandschuhe, bei denen das Fell nach innen weist und an den Füssen Fellschuhe. Die Schuhe sind auch zweilangig und bei der Aussenlage weist das Fell nach aussen. Dies hat den Vorteil, dass wir auf dem eisigen Boden nicht rutschen. So gerüstet, verabschieden wir uns von denen, die im Lager bleiben und machen uns auf den Weg zur Jagd. In schnellem Tempo geht es voran und nach etwa einer Stunde erreichen wir unser Jagdgebiet. In einiger Entfernung sehen wir eine Gruppe Eisbären und nun heisst es, sich langsam gegen den Wind an die Tiere heranzurobben. Sie dürften uns nicht hören, sehen und nicht riechen, sonst sind sie blitzschnell Auf und Davon. So tapsig die Eisbären aussehen, so schnell sind sie dennoch. Langsam Stück für Stück wagen wir uns voran. Und - auf ein Blickzeichen ziehen wir unsere Bogen auf und schon schwirren die Pfeile durch die glasklare Luft. In der Ferne bricht ein junger Eisbär tot zusammen und die anderen Eisbären rennen gewarnt davon. Wir nähern uns vorsichtig unserer Beute und ganz sicher zu sein, dass der Eisbär wirklich tot ist. Doch bevor wir uns über unsere Beute hermachen, müssen diverse Rituale stattfinden, damit wir Sila nicht verärgern, müssen wir dem Eisbär zu trinken geben, damit seine Seele gestärkt seine Heimreise antreten kann. Er bekommt auch noch von uns ein Geschenk für Sila mit. Nachdem dies erfolgt ist, wenden wir uns unserem Jagderfolg zu. Der Eisbär wird schnell gehäutet und die Eingeweide entnommen. Alles wird in eigens dafür vorgesehene Behälter gepackt. Wir machen uns eilig auf den Heimweg, denn inzwischen ist es schon nach Mittag und im Winter wird es hier schnell dunkel. Im schwindenden Taglicht erreichen wir unser Lager, wo schon die Frauen auf uns warten. Sie nehmen unsere Beute in Empfang und das Tier wird nach genau festgelegten Regeln zerlegt und unter den Familien verteilt.

Mutter macht sich auch gleich daran, das Fleisch zu Konservieren, dazu wurde es eingesalzen und in einen Ledersack gelegt. Das Fell, die Krallen usw. legte sie auf Eis, damit sie sie am nächsten Tag weiter verarbeiten kann.

Die Frauen haben inzwischen das Nachtmahl gerichtet und wir sitzen in unserem Qarmag, im Wohnbereich auf dicken, schweren und kuscheligen Pelzen. wir trinken die warme, kräftige Brühe, in denen dicke Stücke fettiges Fleisch und gesammelte Kräuter aus dem vergangenen Sommer schwimmen. Als wir fertig sind, sitzen wir zusammen, während die Alten uns Geschichten aus früheren Zeiten und von dem Leben an den Küsten erzählen.

Wir haben Verwandete dort und wir freuen uns immer wenn wir einander besuchen können und unsere Nachrichten austauschen können. Doch die Zusammentreffen haben noch einen ganz besonderen Effekt, wir handeln untereinander auch mit unserem Fleisch, Kleidung, die die Frauen genäht haben und Jagdutensilien, die von den Männern gefertigt wurden. So bekommen wir Landbewohner auch in den Genuss von Robben- und Walfleisch, können Öl eintauschen und die Seebewohner erhalten dafür warme Eisbärhandschuhe und Kleidung. Obendrein kann ich da meine zukünftige Frau sehen. Ach, das habe ich noch nicht erzählt: bereits kurz nach meiner Geburt haben die Familien untereinander beschlossen, welches Mädchen sie als meine Frau vorsehen. Neila heisst sie und ist ein wenig jünger als ich, ein kleines, etwas scheues Mädchen mit grossen dunklen Augen und langem schwarzen Haar. Es wird nicht mehr lange dauern und dann werden wir verheiratet. Bei uns wird früh geheiratet, vielleicht auch deshalb, weil die Inuits nicht so lange leben. Ich finde den Gedanken komisch, dass ich eine Frau haben werde.

Die kommenden Wochen gingen in dem gleichen Rhythmus weiter. Die Männer gingen auf die Jagd, während die Frauen sich um die Kleinkinder kümmerten, die Mahlzeiten kochten, das Feuer in Gang hielten, die Felle gerbten und unsere Vorräte anlegten. In den letzten Tagen waren sie viel am Reden. In unserer Gemeinschaft war eine Frau schwanger und wird bald ihr Kind gebären. Die Frauen geben ihr allerhand Ratschläge. Während der Schwangerschaft und bei der Geburt muss die werdende Mutter vieles beachten, damit ihr Kind gesund auf die Welt kommt. Es ranken sich allerhand Mythen darum und die werdende Mutter hat einige Tabus einzuhalten. Die bevorstehende Geburt sorgt auch bei den Männern für zusätzliche Arbeit. Für die Geburt muss ein eigens dafür ein Qarmag gebaut werden. Das Bauen der Qarmag im Winter, der Iglus auf Reisen und der Zelte im Sommercamp ist Männersache.

Und das steht heute auf der Tagesordnung: den Geburts-Qarmag bauen: Wir suchen uns dafür einen geeigneten Platz zwischen den Felsen aus. Dann spannten wir Rippenknochen von Walen, die wir bei unseren Verwandeten eingetauscht hatten, zwischen die Felsen. Ganz besonders müssen wir darauf achten, dass der Eingangsbereich tiefer liegt als der spätere Innenbereich, den nur so ist gewährleistet, dass die kalte Luft draussen bleibt und die warme Luft nicht entweicht. Inzwischen steht das Gerüst. Jetzt folgt der schwierigere Teil: im unteren Bereich werden Steine, Gestrüpp, Grasbüschel gelegt, was insofern schwierig ist, da der Boden gefroren ist und wir mit unseren dicken Handschuhen auch nicht so gut greifen können. Holz gibt es hier in unserer Gegend kaum. Uns wird so richtig warm bei der Arbeit, doch irgendwann ist es geschafft, bis auf fast einen Meter haben wir das angehäuft. Jetzt kommen die Häute zum Einsatz. Als der gesamte Qarmag damit bedeckt ist, beginnen wir mit der Feinarbeit. Alles wird noch mit Schnee abgedichtet. Stolz betrachten wir unser Werk und die Frauen beginnen mit dem Inneneinrichten, viel bedarf es nicht: einen Schlafbereich mit vielen Pelzen für Mutter und Kind und einen Quillig. Die Frauen im Dorf haben für die Schwangere eine neue Jacke genäht mit einem innenliegenden Beutel, in der sie ihr Kind tragen wird. Es ist schon fast dunkel, als wir fertig sind. Der heutige Abend wird schnell ausklingen und ich freue mich schon auf mein warmes Bett, wo wir Kinder zwischen den Erwachsenen schlafen.

Die Tage wandern dahin. Eines Tages waren wir alle zu einer mehrtägigen Jagdreise aufgebrochen. Reisende hatten von einer größeren Gruppe von männlichen Karibus gesprochen. Karibus sind uns eine willkommene Beute. Sie liefern uns Fell, sehr mageres Fleisch und aus ihrem Geweih und Knochen fertigen wir Werkzeuge. Wenn eine Gruppe Karibus gesichtet wurde, so ziehen auch andere Familien aus der Taiga dahin und es wird fast zu einem Treffen der Famlilien. Abends mussten wir Männer für die Nacht die Iglus bauen und am nächsten Tag zogen wir mit unserer Karawane aus mehreren Schlittenhundengespannen weiter. Wir waren drei Tage unterwegs. Als wir an dem Sammelpunkt ankamen, herrschte dort schon munteres Treiben. Wir begrüssten die anderen und bauten unsere Iglus. Abends sassen wir in grosser Runde zusammen und tauschten Neuigkeiten aus.

Am nächsten Tag gingen die Männer auf die Jagd nach den begehrten Karibus. Die Felle der Karibus haben eine besondere Eigenschaft. sie besitzen quasi ein Luftpolster, denn die Haare sind innen hohl mit einem Luftpolster versehen. Dies ermöglicht den Karibus, den extremen Temperaturen zu widerstehen. Sie können zusätzlich noch besonders stark ihre Körpertemperatur regeln. - Es war ein voller Jagderfolg und wir konnten fette Beute machen. Am Abend des letzten Tages fand das Lampenlöschfest statt. Nach einem üppigen Mahl, setzen wir uns auf den zentralen Platz, wir stimmten in traditionelle Lieder ein und der Schamahne begann die Trommeln zu schlagen. Er nahm Kontakt mit Aninga auf, der Seele des Mondes, der Herrscher über Mensch und Tier, der Fruchtbarkeit und der Beschützer der Jäger ist. Im Laufe des Abends wurde man immer ausgelassener und so nach und nach verschwanden die Paare in den Iglus, denn das Lampenlöschfest hat noch eine andere, für das gesunde Überleben unseres Stammes, wichtige Bedeutung: den Partnertausch.

Am kommende Tag ging die Reise zurück in unser Winterquartier, wir verabschiedeten uns, wünschten allen eine gute Heimreise und freuten uns schon auf unsere nächste Begegnung. Als wir zu Hause angekommen waren, hatten wir jede Menge zu tun: die Frauen mussten das Fleisch und die Felle verarbeiten, wir Männer die Knochen und Geweihe. Bald wurde es Frühling und wir brauchten Waren für den Tauschhandel mit unseren Verwandten am Meer. So hatten wir alle Hände voll zu, doch eines Tages starb eine meiner Grossmütter, sie hiess Kenojuak. Sie wurde von den Frauen gewaschen, angekleidet und ihr langes, kräftiges Haar zu einem kunstvollen Zopf geflochten, der weit in ihre Stirn reichte. Sie sah so friedlich aus, fast als würde sie schlafen. Der Schamahne gab ihr noch Geschenke und Wünsche mit auf ihre letzte Reise. Dann fuhren die Frauen mit ihr weit hinaus in die Taiga, legten sie in den Schnee, mit dem Blick gen Himmel und bauten über ihr einen Grabhügel aus Steinen.

Doch wie das Leben so spielt, liegt auch bei uns das Sterben und Leben nah beieinander. Keine zwei Wochen später setzten bei der inzwischen hochschwangeren Frau aus unserer Gemeinschaft die Wehen ein. Die Frauen geleiteten sie in den Geburt-Qarmag, gaben ihr genügend Wasser mit, allerdings nimmt die Schwangere keine Nahrung mit, der Schamahne rief Sila an, um sie für die Geburt um Beistand zu bitten. Es stand jetzt schon fest, dass das Kind Kenojuak heissen wird. Nun liess man die Gebärende alleine und wir werden sie erst wieder sehen, wenn bei ihren Neugeborenen die Nabelschnur abgefallen ist. Bis dahin bleibt sie nur mit Wasser, ohne Besuch und ohne Nahrung.

In der Zwischenzeit feiern wir den Wechsel der Jahreszeiten. Wir Inuits kennen sechzehn verschiedene Jahreszeiten. Es wird ein Fest mit traditionellen Tänzen und Gesängen. Dieser Wechsel hat eine besondere Bedeutung: er zeigt das Ende des Winters an und weist uns den Weg in den Frühling. Sobald die wärmere Jahreszeit beginnt, werden wir unser Winterlager abbrechen und in unser Sommerlager an der Flussmündung ziehen. Dort werden wir in Zelten aus Häuten leben, wir werden Fische und kleine Beutetiere jagen, die Frauen werden Beeren, Früchte, Vogeleier und Treibholz sammeln. Es werden Kinder geboren und Menschen sterben, wir werden unsere Verwandten am Meer besuchen und werden Besuch erhalten. Wir werden weiter im Wechsel der Jahreszeiten leben und uns an den Wanderungen unserer Jagdtiere orientieren. Eines Tages wird meine Hochzeit verkündigt und ich werde selber Kinder haben, so wie es Generationen von mir erging und wie weitere folgen werden. Hier habe ich Euch teilhaben lassen an einem Teil meines Lebens, ein Teil davon Wahrheit, ein Teil frei erfunden - doch es ist mein Leben bei meinem Stamm der Inuits.

Anmerkung der Autorin:
Es handelt sich um eine frei erfundene Geschichte, bei der ich versucht habe, Informationen aus dem Leben der Inuit mit einfliessen zu lassen - dennoch übernehme ich keinerlei Gewährleistung, das alles des Wahrheit und Richtigkeit entspricht.

- copyright Julietta Günther -






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